Die Idee der professionellen Distanz begegnet mir immer wieder im Berufsalltag, und in letzter Zeit störe ich mich an diesem Konzept. Es ist nicht falsch – natürlich sind Grenzen wichtig, für alle beteiligten Personen. Grenzen bieten Rückzugsräume und sichere Orte, sie trennen für die beratende Person Arbeit von Privatleben und für die Person, die beraten wird.

Ich arbeite viel mit Jugendlichen, und manche von ihnen kommen mit Herausforderungen, die sich aus komplexen Bindungsbedürfnissen ergeben (im Jargon wird das oft mit Borderline beschrieben, einem stigmatisierenden Wort, das ich zu vermeiden versuche). Ich versuche im Rahmen meiner Arbeit eine angemessene Antwort auf diese Bindungsbedürfnisse zu geben, und lockerzulassen, wenn es zu eng für die Person wird, aber auch nah zu sein, wenn die Person jemanden an ihrer Seite braucht. Öfter Termine rausgeben als wie üblich einmal die Woche, für ausgefallene Termine am Folgetag einen Ersatz finden, jemanden umarmen, dem es gerade richtig schlecht geht, per WhatsApp nachhaken… all das ist nicht allein professionelle Distanz. Die Distanz spielt dabei auch eine Rolle – ich will kein Freund der Person werden. Aber ich finde, wir reden zu wenig darüber, wie man eigentlich professionelle Nähe herstellt. Wie können wir aus unseren Professionen heraus eine Nähe herstellen, die hilfreich und wohltuend ist? Im Grunde wissen wir doch alle (aus Erfahrung und Forschung), dass die therapeutische Beziehung am wichtigsten für den Erfolg der Gespräche ist, aber trotzdem reden wir immer wieder über professionelle Distanz, als wäre das einzig professionelle die Herstellung von Distanz.

Aber es braucht beides: Die Sicherheit, dass die therapeutische Beziehung da bleibt, wo sie hingehört, dass die arbeitende Person in der Fürsorgerolle bleibt und nicht eigene Bedürfnisse zu stillen versucht, emotional oder gar sexuell, und eben die Sicherheit, dass die therapeutische Beziehung da bleibt, wo sie hingehört: An meiner Seite, mir zur Verfügung.

Das deutlichste Beispiel für die Fehlleitung durch die Idee der professionellen Distanz sind für mich Non-Suizid-Verträge. Ich halte insgesamt nicht sehr viel von ihnen, weil sie für mein Empfinden vor allem die beratende Person (juristisch) entlasten sollen und nicht so sehr die hilfebedürftige Person in einer suizidalen Krise. Letzteres wäre aber dran.
Zudem ist die Idee eines Vertrags so dermaßen getränkt von der Idee der professionellen Distanz und verleugnet die massive fühlbare Schwere eines Suizids im Raum mit „Unterschreiben Sie bitte hier“. Eine Kollegin hat mir mal gesagt, dass die Nonsuizidverträge für sie nur der Anlass wären, über Selbstfürsorge und Notfallpläne zu sprechen, was ich deutlich besser fand.

Und doch bleibt die Frage: Auf was für Ideen kommen wir eigentlich, wenn wir über professionelle Nähe mehr nachdenken? Wäre es richtig und professionell, einen Menschen in einer suizidalen Krise täglich zu sehen? Wäre es gut, mal vorbeizuschauen oder anzurufen? All das wäre sicherlich nicht distanziert, und wir haben uns angewöhnt zu denken, dass alles was distanziert ist auch professionell ist, aber ich stelle das in Frage. Anstatt immer nur auf die Nähe oder Distanz zu schauen, halte ich es für wichtig, dass wir die Frage nach der professionellen Gestaltung in den Vordergrund rücken: Wie genau sieht es eigentlich aus, wenn ich professionell, also gemäß meiner Profession, gemäß all meines Wissens auf Menschen reagiere? Ich glaube, es wird manchmal nah und manchmal distanziert sein, bzw. würde ich manchmal Kontakt und Halt anbieten und manchmal Raum geben und Grenzen aufzeigen. Die Mischung macht’s.

Carl Rogers, der Begründer der humanistischen Gesprächspsychotherapie, hat in seiner relativ berühmten Sitzung mit Gloria auffällig geantwortet, als Gloria sagt, sie hätte gern einen Vater gehabt wie ihn:

„Gee, how nice I can talk to you and I want you to approve of me and I respect you, but I miss that my father couldn’t talk to me like you are. I mean, I’d like to say, Gee, I’d like you for my father.“

Gloria

Wenn ihr wie ich viel geprägt wurdet durch Ideen von professioneller Distanz, habt ihr jetzt vielleicht auch das Bedürfnis, etwas richtig zu stellen, euch im Stuhl nach hinten zu lehnen und irgendwie klarzumachen, dass das hier aber „nur“ eine Therapie ist. Carl Rogers sagt folgendes:

You look to me like a pretty nice daughter.

Carl Rogers

Irre, oder? Der traut sich was… er schließt dann übrigens direkt wieder an mit „But you really do miss the fact that you- you couldn’t be open with your own dad“, und irgendwo zwischen diesen beiden Aussagen sehe ich Professionalität, die eben keine Angst vor Nähe hat und doch weiß, dass die Nähe auch nicht alles ist. Ich wünschte, wir alle würden etwas entspannter damit umgehen, dass wir in weiten Teilen Bindungsarbeit machen und wir vermutlich eine wichtige Rolle spielen für einige der Menschen, mit denen wir Gespräche führen. Und das ist doch eigentlich total schön.

(Bild von Seth Doyle auf Unsplash)

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